Fast 60 Jahre hat Absetzer Nr. 747 im Tagebau Inden zwischen Eschweiler und Jülich treue Dienste geleistet. Ende August bereiteten rund 60 Kilo Sprengstoff dem 2000 Tonnen schweren und fast 50 Meter hohen Tagebaugerät den Weg für seine Verschrottung mittels Sprengung vor. Es wurde danach in Einzelteile zerlegt und der Stahl wiederverwendet.
Aufgrund seiner Höhe und unter Spannung stehender Bauteile ist ein kontrolliertes manuelles Zerlegen mittels Schneidbrenner oder Bagger des Absetzers (Gerät zur kontinuierlichen gezielten Ablagerung von Abraum) im rheinischen Braunkohlerevier zu riskant. Deshalb soll mit einer Sprengung, die sich gegenüber anderen Verfahren als wirtschaftlicher zeigt, die Höhe des Tagebaugerätes reduziert werden. Außerdem werden dadurch Kräfte aus der Konstruktion genommen, welche vor über 60 Jahren durch Ingenieure (15 Gründe, durch Verzicht auf movierte Formen zu Ent-Gendern) übrigens ohne Computerhilfe ausschließlich am Reißbrett geplant wurde. Vorbereitend hierzu wurden einige Tage zuvor Bauteile mit umweltgefährdenden Bestandsteilen, wie Öle, entsorgt. Ebenfalls wurde das Tagebaugerät vor seiner Sprengung von Ballast entfernt. Alleine die Kabeltrommel für den 25.000-Volt-Anschluss des Tagebaugerätes brachte 40 Tonnen auf die Waage. Dabei förderte der Absetzer noch wenige Monate zuvor bis zu 80 000 Tonnen/ Kubikmeter und Tag an Abraum und Kies. Dementsprechend liefen jährlich mehrere Millionen Kubikmeter Abraum über dessen Förderbänder. Seit 1968 bewegte das Tagebaugerät laut Aufzeichnungen insgesamt mehr als eine halbe Milliarde Kubikmeter Abraum. Nun wird das Meisterwerk deutscher Ingenieurskunst nicht mehr benötigt. Darüber hinaus lohnen sich anstehende Reparaturarbeiten für das Tagebaugerät nicht mehr.
Freitag, 24.08.18, 20:30 Uhr. Ruhe von den Vorbereitungsarbeiten der bevorstehenden Sprengung ist eingekehrt. Meine Nachtschicht beginnt. Während ich den Hauptschalter der Lichtmasten in die Position Ein bringe und die Start-Taste drücke, startet das Dieselaggregat bereits. Indessen tauchen Scheinwerfer bereits nach wenigen Sekunden das 140 Meter lange Tagebaugerät, der eben noch mit dem sternenklaren Nachthimmel vereint schien, in gelblich-fahles Licht.
Auf weiter Flur bin ich alleine.
Rückblende. „Kannst Du uns unterstützen?“ fragte mich wenige Tage zuvor Michael Schneider vom Sprengunternehmen Liesegang. Er und sein Team hatten die Tage zuvor bereits Schneidladungen an vorgeschwächten Stahlträgern angebracht und benötigten Unterstützung für die Bewachung über Nacht. Denn sobald das erste Gramm Explosivstoff am Tagebaugerät angebracht ist, darf ein gewöhnlicher Sicherheitsdienst hier nicht eingesetzt werden. Schließlich fordert Gesetzgeber die Anwesenheit eines Inhabers einer sprengstoffrechtlichen Befähigung nach § 20 Sprengstoffgesetz (SprengG). Und diese Leistung wird von Security-Dienstleistern in der Regel nicht erbracht. Darüber hinaus ist die Polizei für die gewerbliche Bewachung einer Sprengung nicht zuständig.
Gegen sieben Uhr kommen Michael und seine Team-Kollegen zur Sprengstelle. Nach einem kurzen Schnack mache ich mich nach Eschweiler zum Hotel auf.
Der Wunsch, dort Schlaf der Nachtschicht nachzuholen, gestaltet sich am ersten Tag jedoch mehr als herausfordernd. Zwar kann ich die Frage der Hotelbesitzerin um 9 Uhr, ob ich nicht doch ein Frühstück haben möchte, noch verneinen. Jedoch macht die gegen 10 Uhr dann um einige Dezibel lauter muezzinartig aus dem Lautsprecher in Dauerschleife emittierte Bitte eines Altmetallsammlers nach haushaltsüblicher Überlassung von Schrott und Alteisen ein Weiterschlafen unöglich.
Aber, Hand aufs Herz: der traumhafte Ausblick aus dem Fenster auf das Kraftwerk vom Kohletagebau ersetzt doch sämtliche erlittende Einschränkungen. Und überhaupt: wer schläft auch schon tagsüber?
So schäle ich mich aus dem Bett und leiste den Kollegen noch Unterstützung bei der Anfertigung und der Anbringung der Schneidladungen für die Sprengung. Mit diesen werden die 10 bis 60 mm starken Tagebaugerät-Stahlelemente mit der im Bruchteil einer Sekunde durchtrennt. Geplant ist, den Ausleger einschließlich Turm, Gegengewicht und die Zuführbrücke mit insgesamt fünf Schnitten mittels Schneidladung zu trennen. Demzufolge wird die weitere Zerkleinerung nach der Sprengung mittels Schrottschere auf Erdplanum ermöglicht.
Die Lage der Schnitte sowie zulässige Vorschwächungen der Konstruktion hat zuvor ein Statikbüro errechnet. Hierdurch konnten auch für die Anbringung der Schneidladung notwendige Aussparungen mittels Brennschneidgerät geschaffen werden. Hat man Erfahrung mit dem Abbruch eines solchen Tagebaugerätes gewonnen, ist die Zuhilfenahme eines Statikers für zukünftige Projekte eigentlich nicht erforderlich, wenn der Auftraggeber dies nicht fordert.
Schneidladungen können für die Verschrottung nicht nur eines Absetzers, sondern auch anderer Tagebaugeräte, wie z. B. Schaufelradbagger, dann zum Einsatz kommen, wenn herkömmliche Abbruchmethoden nicht geeignet sind und die Sicherheit bei Abbruchtätigkeiten Vorrang haben muss. Vor dem Einzug von Schneidladungen Anfang der 2000er Jahre wurde Stahl noch z. B. mittels angelegter Sprengladungen (sogenannter Scherladung) getrennt. Die führte erstens zu Splitterflug und hohem Schalldruck. Weiterhin fordert der Gesetzgeber einen Sicherheitsbereich von mindestens einem Kilometer für eine herkömmliche Stahlsprengung. Aufgrund dichter Bebauung ist ein solcher hierzulande jedoch nicht oder nur schwer einhaltbar. Demgemäß lässt der Einsatz von Schneidladungen, welche mit weitaus geringeren Sprengstoffmengen viel effizienter arbeiten, erheblich kleinere Absperrbereiche zu.
Zudem wird bei der hier eingesetzten Schneidladung LSC Linear Cutter AES aufgrund der idealen geometrischen Gestaltung des Kupferprofils eine sehr hohe Schneidleistung bei vergleichsweise geringer Sprengstoffmenge erzielt. In diesem Sinne sind Form und Winkel des v-förmigen Kupferprofils der Schneidladung derart beschaffen, dass durch den sogenannten Munroe-Effekt selbst bei kleiner Explosivstoffmenge sich Stahlplatten und Stahlseile effizient durchtrennen lassen. Hierzu vereinen sich die beiden durch das Kupferprofil vorgegebenen Explosionsfronten und resultieren in einem Schneidstachel, der mit über 8000 Metern pro Sekunde präzise Stahl trennt. Linear Cutter enthält als Explosivstoff den hochenergetischen Sprengstoff RDX (Research Department Explosive). Dieser Explosivstoff ist auch unter dem Namen Hexogen bekannt, einer brisantesten Sprengstoffe.
Die Schneidladung LSC Linear Cutter AES kann Stahl übrigens in Materialstärken von ca. 5 bis 75 mm durchtrennen. Ein Ablängen der recht starren Schneidladung ist nur mit einer zugelassenen Säge möglich.
Auch die zum Abbruch des Absetzers eingesetzte Schneidladung Semtex Razor, welche Semtex als hochenergetischen Explosivstoff enthält, arbeitet nach dem zuvor beschriebenen Munroe-Effekt. Der Sprengstoff Semtex ist übrigens ein Gemisch bestehend aus dem im Linear Cutter verwendeten RDX / Hexogen und PETN. Im Gegensatz zu LSC Linear Cutter AES wird bei Semtex Razor der Kupfer-Liner jedoch nicht aus starrem Material, sondern als eine Art Kupferpaste realisiert. Hierdurch lässt sich die Sprengladung leichter biegen und mit einem Messer in die benötigte Länge bringen. Dafür benötigt Semtex Razor im Vergleich zu Linear Cutter mehr Sprengstoff zur Erzielung vergleichbarer Ergebnisse.
Weiterhin gilt es, die 45 mm starken Tragseile vom Tagebaugerät zu trennen. Denn diese verbinden seine Abwurfbrücke über den rund 50 Meter hohen Turm mit dem Gegengewicht. Für ein optimales Ergebnis erfolgt auch hier die Sprengung der Stahlseile mittels Schneidladung. Um auf Nummer Sicher zu gehen, wurden im Vorfeld sogenannte Probesprengungen an einem vergleichbaren Stahlseil durchgeführt. Denn erfahrungsgemäß benötigt ein Drahtseil aufgrund seiner Beschaffenheit zu seiner sprengtechnischen Trennung manchmal höher dimensionierte Sprengstoffmengen als Massivstahl.
Für die optimale Wirkung von Schneidladungen ist es zudem essenziell, den herstellerseitig vorgegebenen Abstand zum zu trennenden Objekt einzuhalten. Bei planen Stahlblechen ist dies – wie aus der vorherigen Bildergalerie ersichtlich – recht einfach möglich. Hier kann die starre Schneidladung mit Abstandshaltern aus Kunststoff einerseits auf das Sprengobjekt positioniert werden. Bei Stahlseilen hingegen muss man ein wenig mit Lochblechen improvisieren, wie im Video dargestellt.
Dienstag, 28.08.2018, 10:30 Uhr: Michael zählt die letzten drei Sekunden bis zum Sprengung herunter. Danach bringen 60 in Serie geschaltete Sprengmomentzünder über 150 Schneidladungen zur Explosion. In weniger als einer tausendstel Sekunde setzt sich der Explosivstoff um.
Das Ergebnis wochenlanger Vorbereitungen der Sprengung offenbart sich den Zuschauern in 500 Metern Entfernung nur als dumpfer Knall. Anschließend dauert es gerade mal fünf Sekunden, bis der Turm des Tagebaugerätes als Letztes zu Boden gefallen ist.
Beifallrufe. Applaus. Man sieht, wie die von Michael als verantwortlichen Sprengberechtigten die Anspannung der letzten Tage abfällt. Ob er wirklich jemals am Erfolg der Sprengung gezweifelt habe? „Ein bisschen Lampenfieber ist immer dabei, sonst höre ich sofort mit meinem Beruf auf“, gesteht er. Denn für jeden Sprengberechtigten (im Volksmund Sprengmeister genannt) ist es ein Albtraum, wenn Teile der Konstruktion stehenbleiben. Immerhin entstehen so unkalkulierbare Risiken bei der weiteren Beseitigung.
Zurück zu Tagebaugerät, bzw. dem was von ihm nach seiner Sprengung übriggeblieben ist: Der Aufschlag von Bauteilen aus ca. 30 Meter Höhe hat Stahlträger verbiegen lassen und zerrrissen. Nieten wurden abgetrennt, hatten sich zu Geschossen entwickelt und verteilen sich demzufolge weit um den Trümmerberg.
„37 Jahre bin ich nun hier tätig“, berichtet ein Mitarbeiter, der als Jugendlicher auf dem Tagebaugerät seine Ausbildung als Schlosser angefangen hat. Jetzt betrachtet er das Ergebnis der Sprengung mit einer offenkundigen Gefühlsmischung aus Staunen und Trauer ob der abgeschlossenen Vergangenheit. Schließlich bedienten er und fünf seiner Kollegen jahrelang den Absetzer. Kurzum: Sie kannten die Errungenschaft deutscher Ingenieurkunst in- und auswendig. Die Zeiten haben sich indes jedoch geändert; heutige Tagebaugeräte mit einer vielfachen Leistung benötigen nur noch einen Bediener. Er zeigt auf die Abdeckung des übergroßen Motors der Seilwinden der Brücke, die nun rund 20 Meter in die Tiefe gerauscht ist. „Diese hat mein verstorbener Vater damals noch in Handarbeit angefertigt“, sagt er und geht wortlos weiter.
Die Weitläufigkeit des Braunkohletagebaus. Die Größe der Tagebaugeräte im Kohlerevier. Das Vorbereiten der Sprengung und di Wucht der Explosion. Das Erfahren der dabei freigesetzten Kräfte. Die Erzählungen der Bergmänner, welche in den Nächten zuvor bei mir vorbeischauten und über ihre Arbeit berichteten oder auf der Rückfahrt aus dem Revier mit dem Auto vor dem Tagebaugerät nur Halt machten und ohne auszusteigen nach längerer Zeit schließlich ihre Fahrt fortsetzten: All dies in Summe lässt das Gefühl von gleichzeitigem Erstaunen, Bewunderung aber auch Wehmut auftreten. Ein Gefühlsmix, den man nicht beschreiben kann, wenn man nicht selber bei der Sprengung war. Auch wenn es nur wenige Tage waren, die ich mit dem herzlichen und kompetenten Team der Fa. Liesegang verbringen durfte.
In sechs bis acht Wochen, wenn dann auch das über zwei Meter hohe Raupenfahrweg des Absetzers in containergerechte Stücke zerlegt wurde, bleibt anschließend nur noch die Erinnerung.
Und die Gewissheit, dass bis zum Ende der Kohleverstromung anlässlich des Kohleausstieggesetzes voraussichtlich in 2038 dann auch die restlichen Tagebaugeräte ein ähnliches Schicksal erfahren werden.